Geschichte
Ursprünglich… Volpone 41
1992, als ich im zweiten Jahr an der Schauspielschule war, dachte ich über meine erste Regiearbeit und über die Gründung eines Ensembles nach. Dazu musste ich die Unterlagen bei der Präfektur abgeben und einen Namen wählen. Zu dem Zeitpunkt begeisterten mich die Begriffe „compagnonnage“ (Anfreundung) und „fraternité“ (Brüderlichkeit).
Während eines Mittagessens erzählte mir mein Vater, dass mein Großvater väterlicherseits, Yves Brochen, als junger Leutnant und Gefangener im Zweiten Weltkrieg, Teil einer Theatertruppe in seinem Offizierslager war, dem Oflag IV D in Schlesien: Die „Compagnons de Jeu“.
Wie man nach einer Flagge greift, übernahm ich also ihren Namen und machte mich auf einer bis heute noch andauernden Suche. Dabei fand ich eine erste Auflösung beim Schreiben eines Szenarios über die Gründung der Compagnons de Jeu und über ihr Widerstandstheater in diesem Lager.
Während ihrer Gefangenschaft haben die Compagnons de Jeu mit den vorhandenen Mitteln rund 15 Stücke auf die Beine gestellt, Konzerte organisiert oder Lateinunterricht gegeben. Indem sie ihre Kultur behaupteten und teilten, haben sie den Entbehrungen und der Kälte getrotzt. Einige wurden früher als andere entlassen, der Leutnant Yves Brochen musste auf das Kriegsende und die Befreiung 1945 warten, bis er nach Frankreich heimkehren konnte. Er war Anwalt und Präsident der Anwaltskammer in Lille. Viel zu früh verstarb er im Jahr 1972. Er hat mir, seiner Enkelin, die ihm aus Gefangenschaft gebliebenen Sachen hinterlassen – der Beginn der Suche, erster Teil des Puzzles.
Im November 2014 setzte ich mich wieder an die Unterlagen für das Ensemble, die seit 2001 ruhten, da mich das Kulturministerium mit der Leitung des Théâtre de l’Aquarium in der Cartoucherie de Vincennes beauftragt hatte. Während der Premiere von Lancelot, dem letzten Stück, das wir am Straßburger Nationaltheater zeigten, lernte ich Herr Henri Masse kennen, Sohn von Charles Masse. Während eines Essens lieferte er mir einen wichtigen Teil des vor zwanzig Jahren begonnen Puzzles. Charles, Mitgefangener meines Großvaters, war einer der wichtigsten Compagnons de Jeu und lieferte mir die Geschichte des „Christus der Gefangenen“:
„Ich erzähle Ihnen eine erlebte Geschichte. Sie ist außergewöhnlich, sie bewegt und ist reich an Lehre, sie ist ebenfalls schön. Schauen Sie selber.
Am 18. Juni 1940 werde ich gefangengenommen und komme, nach den Lagern von Tonnerre, Saint Florentin und Mailly, am 13. August in Osterode an, eine kleine Stadt im Harz. Dort werde ich mit anderen Gefangenen im Oflag XIA „begrüßt“. Wir sind etwa 600 bis 700 Offiziere, seelisch und körperlich von dem Zusammenbruch unseres Landes niedergeschlagen, von allem abgeschnitten, ohne Nachrichten über niemanden. Es muss etwas getan werden, um die trübe Stimmung und die dunklen Gedanken zu verjagen, den Verzweifelten wieder Tatkraft zu geben. So wird unsere Gruppe geboren, ein Duzend Offiziere, die „Compagnons de Jeu“, die fünf Jahre lang von einer Freundschaft leben werden, die die Zeit nie wegwischen konnte, mit einem und demselben Wunsch: unterhalten, „es hinbekommen, euch zu erfreuen, das war der Wunsch der Compagnons de Jeu“.
Keiner von uns ist professioneller Schauspieler, aber alle mögen das Theater, das in der Lage scheint, den Gefangenen jede Woche eine vorübergehende „Flucht“ zu ermöglichen, bis etwas Besseres kommt.
Uns wird eine kleine Baracke als Heim für Zusammentreffen und Proben zugewiesen. Anfangs bestanden unsere Aufführungen durch die nicht vorhandenen Mittel bloß aus Gesang, Dichtung und Pantomime. Dann schafften wir es, Texte zu bekommen. Tagsüber und abends verbrachten wir die Zeit mit Proben, dem Bauen des Bühnenbildes und dem Fertigen von Kostümen (alles aus Papier).
Mehrere Stücke kommen zur Aufführung, darunter Dulcinée von Gaston Baty, inspiriert von der Legende des Don Quichotte.
Für die ersten Szenen dieses Schauspiels benötigten wir zwingend ein großes Kruzifix, da für dessen wichtige Rolle ein greifbares und fühlbares Abbild von Nöten war, reichte ein einfaches gemaltes Bild nicht aus. Einer von uns war ehemaliger Student einer Kunstschule, Architekt und ein wahres kreatives Genie. Er ließ uns Zeitungen zerknicken und zermahlen und mit unserer abendlichen Sojasuppe einkleistern, dann verarbeitete und modellierte er diese Masse, um die Form eines spanischen Christus, voller Schmerz und Realismus, zu erschaffen; danach schnitten wir braunes Einwickelpapier in ganz kleine Stücke und klebten sie auf diese Papierkonstruktion, was ihr den Anschein von altem Holz verlieh. Das war verblüffend, es hätte einen Antiquitätenhändler täuschen können!
Das Stück wurde aufgeführt und danach der Christus in die Kapellenbaracke gestellt. Kurze Zeit später mussten wird das Lager wechseln und bei unserer Abfahrt baten wir darum, dass unser Christus einer Kirche der Gemeinde übergeben werde. Ohne unser Wissen hatte zwischenzeitlich ein aus der Region rund um Osterode stammender Deutscher, der sich bei Toulouse aufhielt, die Gelegenheit, nach Umständen deren Erzählung hier zu lang wäre, Fotos unserer aufgeführten Stücke zu sehen, darunter die von Dulcinée. 1945 kehrte er nach Hause und wurde als Architekt für die Reparatur des Kruzifixes einer Kirche in Osterode angefragt; welch eine Überraschung als er die Fotos sah!
Er beschichtete das Kruzifix mit Kunststoff, um dessen Erhaltung sicherzustellen und beeilte sich, eine unserer Familien zu benachrichtigen, dass unser Christus immer noch lebte.
Die Jahre vergehen, ein Tag folgt dem anderen und plötzlich geschieht ein Ereignis, das die Erinnerung der unsterblichen Vergangenheit auftauchen lässt und somit die großen vergessenen Emotionen mit einer erstaunlichen Präsenz wieder ins Bewusstsein ruft.
1976. Einer von uns erhält einen Brief des Superintendenten der lutherischen Kirche Osterodes, der ihn das baldige Ende der Restaurierungsarbeiten an der alten Abtei des zisterziensischen Nonnenklosters ankündigt; zu diesem Anlass würden kulturelle und künstlerische Veranstaltungen stattfinden; der Höhepunkt dieser Feierlichkeiten wäre die Aufstellung des zur Verehrung freigegebenen Denkmals „Christus der Gefangenen“ in der seitlich gelegenen Kapelle. Er selbst sowie die Einwohner wären sehr glücklich, die Schöpfer dieses symbolträchtigen, religiösen Objektes zu begrüßen. Stellen Sie sich vor, was für Emotionen solch eine Einladung bei uns hervorgerufen hat. So fanden wir uns fast alle 35 Jahre später in Osterode wieder, begrüßt von unseren ehemaligen Gefängniswächtern, gefeiert und geehrt; aber auch erschüttert, als wir am Abend unserer Ankunft unseren Christus mit ausgestreckten Armen, riesig und schmerzerfüllt, ganz alleine über dem Altar sahen. Nach einem wunderbaren Gottesdienst übergab unser Kamerad, Erschaffer unseres Projekts, in unserem Namen den Christus an die Einwohner von Osterode, um „den Christen, die vor ihm knien werden, zu helfen, für Freundschaft und den Frieden zwischen den Völkern zu beten“, so sagte er.
Danach folgte das von der Stadt organisierte Festessen. Unser Aufenthalt ging weiter mit dem Besuch unseres ehemaligen Lagers, das zum Quartier einer Panzerdivision wurde, einer organisierten Rundreise im von der Herbstsonne buntgefärbtem Harz und als Kontrast zur Schönheit der Landschaft machten wir einen Stopp an der Grenzlinie zu Ostdeutschland.
Liebe Freunde, ich habe Ihnen diese Geschichte nicht nur erzählt, um die empfundenen Emotionen aus einem außergewöhnlichen Ereignis zu teilen, sondern weil ich aus diesem Ereignis einige Lehren ziehen kann.
Die erste besteht darin, dass man vom Nichts immer zu etwas brauchbarem gelangen kann, solange man den Willen und den Glauben hat.
Die zweite besteht darin, dass jede Prüfung Hoffnung in sich trägt.
Die dritte besteht darin, dass „dienen“ eine Quelle für tiefe Freude und Zufriedenheit für sich selber und für andere ist.
Und die letzte, endlich, die die uns am meisten interessiert, besteht darin, dass wir hin und wieder eine simple Geste machen oder eine bescheidenen Tat erfüllen, ohne die daraus resultierenden Konsequenzen zu kennen, die der würdevollen Sache, der Freundschaft zwischen den Völkern dienlich ist.“
Diese Geschichte, deren Geschichte findet hier ein erstes Echo, eine erste Etappe in der Arbeit, die uns um sie herum aktiv werden lässt. Wir haben uns selber versprochen diese Geschichte zu erzählen und die Erinnerung an deren Tat zu kultivieren.